Vor genau neunzig Jahren, im Spätsommer 1934, entstanden die ersten Tonaufnahmen, die Jean-Baptiste „Django“ Reinhardt und seine Band in jenem Klangbild zeigen, das zum ewigen Vorbild eines neuen Musikstils werden wird: Das Herz des Gypsy Swing, die nur auf Saiteninstrumenten gespielte Version des aus den USA stammenden Hot Jazz, beginnt zu schlagen.
Im August 1934 treffen sich Django Reinhardt, sein Bruder Joseph und Bassist Juan Fernandez in einem Pariser Tonstudio und nehmen erste Versionen von „After you’ve gone“, „Tiger Rag“, „I’m confessin (that I love you)“ auf – allesamt Hits der US-Charts, wenn man so will, welche die Band auf ihre unverkennbare Art interpretiert. Bis dahin waren Django und die Seinen – u.a. Bruder Joseph Reinhardt, Roger Chaput, Louis Vola – vor allem als Sidemen in unterschiedlichen Tanzorchestern zugange (insbesondere unter der Leitung von Michael Warlop); auch der Geigenvirtuose Stephane Grapelli war dort ab und an mit von der Partie. Aber nun, im Pariser Sommerloch von 1934 entstehen die ersten Aufnahmen als eigenes Bandprojekt: Kurz und bündige Dreiminüter, zunächst im Trio wie oben geschildert, dann im Studio Odeon mit Grapelli als gleichberechtigtem Solisten. Wie ein sanfter Urknall geben die Aufnahmen einen Ausblick auf alles, was das später entstehende „Quintette du Hot Club de France“ zu einem der einflussreichsten Jazz-Ensembles aller Zeiten werden lässt. Geschmackvolle, einprägsame Intros und Outros, die das Stück kunstvoll umrahmen; die Themen der Stücke vorgetragen mit einer an der Geige und der Gitarre nicht gekannten und bis heute selten erreichten Dynamik und Fantasie; die präzise gespielte Begleitung, in der jeder Akkord, jede Anschlagslänge und Akzentierung bis ins kleinste durchdacht scheint; Djangos Einwürfe und Verzierungen, die alle Klangfarben und perkussiven Möglichkeiten eines Orchesters verkörpern; und natürlich dessen Improvisationen: ein nie gehörter Sound, Phrasierung und Geschwindigkeit, dazu ein schier grenzenloser gestalterischer und melodiöser Ideenreichtum machen einen Solo-Chorus von Django oft interessanter, als viele Solos seiner Nachfolger in Gänze. Die Improvisationen Reinhardts und Grapellis sind dabei von Beginn an so stark, dass sie zum Herzstück, ja zum Wesenskern der Aufnahmen werden, was den Aufnahmen jenseits ihrer popmusikalischen Ästhetik von Beginn an auch den Jazzcharakter verleiht, auf den sich das Genre bis heute beruft.
Die Aufnahmen, die zwischen 1934 und 1939 unter dem Namen „Quintette du Hot Club de France“ entstehen, sind geprägt von einer unerreichten spielerischen Fantasie und Energie, die aber immer leichtgängig und aufgeräumt wirkt und den Zuhörer nie überfordert. Diese musikalische Dichte verleiht insbesondere dem Frühwerk Django Reinhardts einen Stellenwert in der Geschichte des Jazz, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Doch auch die weitere künstlerische Entwicklung des „Quintette du Hot Club de France“ als Band und Django Reinhardts als Solisten sind beeindruckend: Stilprägend sind die kunstvoll und punktgenau eingewebten Einflüsse aus der Klassik – insbesondere im Bereich der harmonischen Ausgestaltung der Akkorde, ebenso wie die selbstbewusste Erweiterung des Songbooks des Quintetts auf französische Chansons (und auch auf deutsche Schlager), hin zur Bearbeitung klassischer Kompositionen von Debussy, Bach, Grieg, Liszt und Kreissler (bis hin zur französischen Nationalhymne), das Komponieren eigener Stücke (die wie der Minor Swing oder Nuages zum Teil weltbekannt werden), sowie vor allem Django Reinhardts konsequente Orientierung am Puls der Zeit: als Instrumentalist hin zu elektrischen Gitarre und zur zeitgenössischen Jazz-Stilistik, als Bandleader, Solist und Rhythmusgitarrist in permanent wechselnden Besetzungen (von seinen bahnbrechenden Solo-Improvisationen, über Duo– und Trio-Aufnahmen, in allen möglichen Ensemblegrößen bis zu Big Band und Orchester).
Dieser Reichtum an Einflüssen und der kreative Umgang mit Kompositionen unterschiedlichster Herkunft machen das Werk Django Reinhardts in seiner Gesamtheit zu einem schier unerschöpflichen Quell der Inspiration. Fast beengend wirken in dieser Hinsicht die oft einseitigen Beschreibungen dieser Musiktradition, zu denen das später entstehende Label „Gypsy Swing“ oft einlädt. Django Reinhardts Herkunft aus der Sinti-Gemeinde spielt für die Entstehung und Entwicklung seines Musikstils sicherlich immer wieder eine gewichtige Rolle – auf persönlicher Ebene und was die Herangehensweise ans Musizieren seiner Ensembles angeht, wie viele Anekdoten belegen. Klassische Sinti-Folklore jedoch, wie sie später zum wichtigen Einfluß und Markenzeichen des Gypsy Swing, vor allem in Deutschland, aber auch in Frankreich, Belgien und Holland werden wird, gibt es im Werk Django Reinhardts dagegen nicht. Eine frühe Aufnahme, bei der Django Reinhardt als Banjospieler mitwirkt, hört auf den Namen „Amour de Gitanes“ und spielt mit Stereotypen der Musette-Tradition (3/4-Takt, Akkordeon als Melodieinstrument, sowie der Einsatz von Kastagnetten), je eine Eigenkomposition widmet Django seinem Sohn und seiner Ehefrau, deren Namen „Babik“ und „Naguine“ klassische Sinti-Namen sind. Ansonsten findet sich in der gesamten Diskographie lange Zeit kein einziger Titel, der als Komposition oder vom Namen her eine Verbindung in die Sinti-Gemeinschaft anzeigt. Im Jahr 1947 werden zwei reine Blues-Improvisationen mit dem Titel „Gipsy with a song“ (1 and 2) veröffentlicht, die jedoch weder für sich genommen einen besonderen musikalischen Stellenwert besitzen, noch in der Rezeption aufgrund ihres Namens eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Django Reinhardts klarste musikalische Referenz an seine Herkunft war die (leider unvollendete) Komposition einer Orgelmesse für die Pilgerfahrt der Sinti nach Camargue. Django Reinhardts Stolz auf seine Herkunft und seine Identität als „Manouche“ scheint in vielen überlieferten Anekdoten durch; doch gleichzeitig ist Django Reinhardt alles andere als ein musikalischer Exot, sondern ist von Kindesbeinen an im Milieu der Unterhaltungs- und Jazzmusiker sozialisiert, zu dessen Stars er zumindest in Frankreich und Teilen von Europa zu Lebzeiten zählt. Genauso ist sein musikalisches Werk bis zuletzt geprägt durch eine konsequente Offenheit zugunsten eines neuen, zeitlosen Musikstils, der bis in die heutige Zeit so viele Kreise erreicht und bewegt: die geneigte Jazz-Hörerschaft, genauso wie ein unbedarfteres Kulturpublikum; und insbesondere auch Musiker aller Couleur und jeden Niveaus, dies jedoch zunächst vor allem in den Sinti-Gemeinden Westeuropas.
Dort entsteht ein eigener, immer vielschichtigerer Musikstil, der alle musikalischen Einflüsse der Sinti-Musik in der von Django Reinhardt kultivierten Musiksprache reformuliert und in Form bringt: Musette-Walzer, Csardas, Rumbas, auf romanes gesungenes Liedgut, ob traditionell oder neu komponiert. In Frankreich wird dieser Musikstil, beginnend mit den Ferret-Brüdern, über Tchavolo Schmitt, Angelo Debarre bis Dorado Schmitt uvm. als „Swing Tzigane“ bekannt, in Deutschland mit Schnuckenack Reinhardt, Häns’che Weiss und Titi Winterstein als „Musik dt. Zigeuner“, in Holland laufen viele Entwicklungen bei den Familien Rosenberg und Limberger zusammen. Dieser Musikstil ist lange Zeit die einzige kulturelle Schnittstelle im insbesondere in Deutschland schwer belasteten Verhältnis zwischen Sinti-Gemeinde und prosperierender Nachkriegsgesellschaft. Die Orientierung an amerikanischen oder inzwischen weltweiten Jazz-Entwicklungen – ursprünglich Geburtshelfer für die Musik Django Reinhardts – spielt in dieser Zeit wenn überhaupt eine Nebenrolle, im Zentrum stehen aus diesem Bereich nach wie vor die Swing Klassiker des frühen 20. Jahrhunderts, die allerdings in immer virtuoserer Form dargeboten werden. Überhaupt wird das Virtuosentum und der Schaulauf der Wunderkinder zum wichtigsten öffentlichen Schauplatz des Genres, dessen musikalische Innenorientierung wie eine symbolische Doppelung der sozialen Aus- und Abgeschlossenheit der Sinti-Gemeinden wirkt.
Das ändert sich erst um die Jahrtausendwende, und insbesondere Anfang der 2000er Jahre mit dem Namen Bireli Lagrene. Wie kein zweiter steht dieser für die Abwendung vom Klischee des „freud- und leidvoll musizierenden Flitzefingers“, als der er durch die großen Bühnen und TV-Studios der 80er gereicht wurde. Zurück aus den USA, wo er sich unbehaftet aller Klischees einen Namen als moderner Jazzmusiker erspielt, kehrt er 2001 mit seinem Gypsy Project zurück und wird vor allem in Frankreich zur Leitfigur einer neuen, moderneren Gypsy Swing-Kultur, die sowohl musikalisch als auch sozial aufgeschlossener ist, als dies in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts möglich war. Zahlreiche Kooperationen mit Jazzgrößen der Zeit, neues Songbook mit Pop und aktuelleren Jazz-Standards, und eine vollends ausgelebte solistische Freiheit machen ihn zum wichtigsten musikalischen Referenzpunkt des Genres seit Django Reinhardt. Dieses erlebt in der Folge eine Renaissance in Europa: Neben Bireli Lagrene aus Frankreich und Stochelo Rosenberg aus Holland, die schnell europaweit von sich Reden machen, sind es mit etwas zeitlichen Abstand im deutschsprachigen Raum insbesondere Diknu Schneeberger, Joscho Stephan und die Django Deluxe-Crew um Giovanni Weiss, die für eine neue Aufgeschlossenheit und Zugewandtheit im Gypsy Swing stehen. Dieser erreicht dadurch neue und größer Publikumsmilieus einerseits, und auch inspiriert vor allem auch andere Musikermilieus zur Auseinandersetzung mit der Musik Django Reinhardts (das Internet als Verbreitungsmedium tut hier sicherlich sein Übriges). Viele „Hot Club“-Ensembles zieren heute die Programmhefte der Kulturbühnen der Bundesrepublik, von solidem Kleinkunstniveau bis hin zu hoch respektablen Ensembles. Auf der anderen Seite steht ein neues Virtuosentum, unprätentiös und mondän, wie u.a. Antoine Boyer und Adrien Moignard, das sich auf die Gypsy Swing Tradition beruft aber auch in ganz andere Gefilde vorstößt; auch der Geiger und Gitarrist Sandro Roy ist hier zu nennen . Doch auch viele Festivals, Konzertreihen und Tributes europa- und gar weltweit zeugen von einer späten, aber stabilen Arriviertheit des Gypsy Swing im kulturellen Mainstream.
Es kann sich heute lohnen, von Gypsy Jazz zu sprechen, wenn man damit den Prozess in den Vordergrund stellen möchte, in dem sich dieser Musikstil von vielen folkloristischen Einlassungen der Nachkriegszeit emanzipiert hat, und in der Folge neu auf diese zugehen kann: Die Kompositionen des Swing Tzigane aus Frankreich, genauso wie die großen deutschen Sinti-Komponisten, stoßen gerade bei jungen Spielern des Genres wieder auf großes Interesse. Die Musik Django Reinhardts steht allemal Pate für diese Entwicklung; jene musikalische Ausdrucksform mithin, die im Pariser Spätsommer 1934 erstmals auf Band festgehalten wurde und die 90 Jahre später zu einem genuin europäischen, schicht- und länderübergreifend geteilten Erbe geworden ist; eine Erbe, das wir mit Stolz und Respekt auch hier bei uns in München antreten.
Daniel Fischer, August 2024.